Der heilige Martin, Bischof von Tours

[347] Legende


»Diesen Martin«, rief der Satan, –

»Fürchtet nichts, ihr Höllengeister,

Fürchtet nichts und hört den Rat an,

Den geschmiedet euer Meister, –

Diesen Martin, der, geplaget,

Angefochten, – unverzaget,

Unverfährdet, uns zum Hohn,

Wiederbringt die Kreaturen,

Die zu unsern Zeichen schwuren,

Dem verhaßten Menschensohn,

Diesen gilt es zu verderben;

Also will um ihn ich werben,

Zählt ihn zu den Unsern schon.«


Redend hat der Geist der Lüge

Form und Körper angenommen,

Und es sind des Heilands Züge,

Welche seiner Arglist frommen, –

Fürchtet nichts, o Vielgetreue,

Fürchtet nichts, wenn euch aufs neue

Tief verhaßt der Anblick kränkt;

Fürchtet nichts, ich bin der Alte,

Der, wie er sein Antlitz falte,

Alten Grolles nur gedenkt;[347]

Ihm, den sie den Heil'gen schelten,

Will ich für den Juden gelten,

Bis er seine Seel uns schenkt.«


Und in Purpur prunkt er eitel,

Gleich den Königen der Erde,

Die Tiar' auf seiner Scheitel,

Stolz und Hochmut die Geberde.

Und die Teufel faßt ein Grauen,

Wie das Schreckenbild sie schauen,

Und ein Weheruf erschallt;

Heulend stürzen sie vonsammen,

Suchen Schutz in ew'gen Flammen

Vor des Rächers Allgewalt;

Und mit Angst erfüllt nicht minder

Auch den argen Trugs-Erfinder

Die erfrevelte Gestalt.


Bischof Martin liegt indessen,

Lieb im Herzen, Hoffnung, Glaube,

Tief in Demut, selbstvergessen,

Vor dem Kruzifix im Staube:

»Der du starbst uns zu erlösen,

Sieh uns Schwache, von dem Bösen,

Von der Sünde Garn umstellt;

Straf uns nicht in deinem Zorne,

Wasch uns rein im Gnadenborne

Von der Schuld, die auf uns fällt.«

Und es tritt der Geist der Lüge

Vor ihn hin, er trägt die Züge

Des Erlösers dieser Welt.


Und in Purpur prunkt er eitel,

Gleich den Königen der Erde,

Die Tiar' auf seiner Scheitel,

Stolz und Hochmut die Geberde:

»Martin, sieh, ich bin der wahre

Christus, und ich offenbare

Dem mich, der zu mir sich neigt;

Und es ist dir anbefohlen,

Anzubeten unverhohlen,[348]

Der sich deinen Augen zeigt.«

Martin starrt, die Augen offen,

Schier entrüstet und betroffen,

Den Versucher an und schweigt.


Und der Arge redet wieder:

»Christus bin ich und befehle;

Falle betend vor mir nieder

Und ergib mir deine Seele.«

Er darauf: »Der Allerbarmer

War hienieden selbst ein Armer,

Er, die Wahrheit, er das Licht,

Er, mein Christus, starb am Holze;

Aber dich in deinem Stolze,

Dich – entfleuch – dich kenn ich nicht.«

Und es war der Trug zerstoben,

Martin, seinen Gott zu loben,

Liegt im Staube fromm und schlicht.


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 347-349.
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