Achtes Bruchstück

Der Dorn

[137] 574

Unbestimmbar, unerkennbar

Sterblichen ist hier das Leben,

Kümmerlich und karg erlesen,

Und in Leiden eingewunden.


575

Keines kennt man doch der Mittel,

Daß Gebornes nicht verderbe,

Und dem Altern folgt das Sterben:

Also ist es Art der Wesen.


576

Früchten ähnlich, reif gewordnen,

Fallen und im Falle fürchten

Sich die sterblichen Gebornen

Immer vor dem Todessturze.


577

Wie des Hafners Töpferware,

Vielgeformte Tongefäße

Alle doch zerbrechen endlich,

Unser Dasein ist nicht anders.


578

Junge starke, Alte schwache,

Toren, Weise, wer es sei auch,

Alle wandeln Todesbahnen,

Todesuntertanen alle.


[138] 579

Da vom Tode sie umfangen

Weiter wandern durch die Welten,

Hilft kein Vater hier dem Sohne,

Und kein Vetter dem Gevatter.


580

Hinterbliebne, Kinder, Eltern,

Sieh' nur wie ein jedes wehklagt,

Eines nach dem andern hinstirbt,

Weggeschleppt wie ein Stück Schlachtvieh.


581

Also treffen Tod und Alter,

Reiben, reißen auf das Leben:

Doch der Kenner trauert nimmer,

Er, der Lebensläufe kundig.


582

Dessen Fährte du nicht findest,

Der gekommen ist, gegangen,

Unerspäht an beiden Enden,

Klag' um ihn erklänge eitel.


583

Wer aus Weh- und Jammerklagen

Etwa sich ein Ziel erzöge:

Aber wirr im eignen Busen

Wühlt' er wissend auf die Wunde.


584

Denn kein Weinen, kein Bekümmern

Frieden kann dem Geiste bringen,

Reicher nur erwächst ihm Leiden,

Und der Leib ist aufgerieben.


585

Abgezehrt und fahl und finster

Selber dir zur Qual dich quälend

Und Verstorbnen keine Stütze

Klagtest weh du ganz vergeblich.


[139] 586

Wer nicht lassen mag sein Grämen,

Tiefer sinkt er ein in Leiden,

Schluchzend nach dem Hingeschiednen

Gibt er nach dem Grame willig.


587

Andre sieh' nun, ihr Verscheiden,

Wie sie nach den Taten wandeln:

In des Todes Macht geraten

Wankt ein jedes hier der Wesen.


588

Denn je mehr sie mehr vermeinen,

Immer wandelbarer wird es,

Und ist alsobald entschwunden:

Sieh', das heißt man Weltenwandel.


589

Mag das Leben hundert Jahre,

Länger noch dem Menschen dauern:

Von Geliebten muß er lassen,

Enden seine Lebenstage.


590

Darum prüfe Meisterkunde,

Überwinde Jammerklagen,

Sieh' den Toten, hingegangen,

Merke: »Mir gehört er nimmer.«


591

Lodert hell empor die Hütte,

Wasser mag die Flamme löschen:

Und so kann der Kühne, Weise,

Klug und witzig Aufgeklärte

Bald entbrannten Kummer kühlen,

Wie der Wind ein Fläumchen fortwehn.


[140] 592

Nachzuklagen, nachzuseufzen,

Traurig ist es, eigne Trübnis;

Eignem Wohle wer sich einigt

Rodet aus den Dorn, den eignen.


593

Ist der Dorn entrafft, entrodet,

Im Gemüte Ruh' erfunden:

Allem Grame dann entgangen

Gramlos worden bist erloschen.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 3, Zürich/Wien 1957, S. 137-141.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Anonym

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Das kanonische Liederbuch der Chinesen entstand in seiner heutigen Textfassung in der Zeit zwischen dem 10. und dem 7. Jahrhundert v. Chr. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Victor von Strauß.

298 Seiten, 15.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon